Gedanken zur sogenannten Europameisterschaft in böhmischer Blasmusik / Zamyšlení nad tzvn. Evropským mistrovstvím v české dechovce

Seit einigen Jahren herrscht in der europäisch-böhmischen  Blasmusikszene beachtliche Verwirrung darüber, was die Europäische Meisterschaft eigentlich zu bedeuten habe. Die Antwort darauf  ist einfacher als man glaubt. Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Im gegenständlichen Fall handelt es sich um alles andere als um die Europäische Meisterschaft, die in ihrer Überschrift stolz verkündet wird. Dies zu erkennen, bedarf es keiner besonderen Fertigkeit. Wenn man sich die zu diesem Zweck angelegte tabellarische Übersicht des Häufigkeitsvorkommens von Komponisten/Arrangeuren ansieht (s. unten), fragt man sich,  warum eigentlich eine viel zutreffende Bezeichnung, etwa  "Watz´sche Meisterschaft" oder je nach Präferenz, die "Deutsche Meisterschaft" nicht gewählt wurde. Diese würde den gesetzten Schwerpunkten doch  viel besser, adäquater Rechnung tragen. In dem Fall würden sich natürlich überhaupt keine Fragezeichen ergeben und dieser Beitrag wäre gegenstandslos. Das Attribut  "Europäische" ist hier hingegen massiv irreführend. Die Spekulation darüber, welche Hintergrundmotive bei der Geburt der Begriffsbildung an der Wiege wohl eine Rolle spielten, muss ich leider aus Platzgründen als eine Hausübung  den werten Lesern überlassen.

Zur Rechtfertigung meiner soeben unterbreiteten Bezeichnungs-Vorschläge  reicht gänzlich aus, wenn ich mir die diesjährigen Listen der Pflicht- und Selbstwahlstücke der EM anschaue und diese interpretiere. Ich habe mir die Mühe gemacht, auch Listen von vergangenen EM  angesehen. Es genügt, wenn ich mich bei meinen weiteren  Erörterungen auf die aktuelle Situation beschränke, um nicht zu langweilen.

Es handelt sich also um eine "Meisterschaft", nicht wahr?  Diese Tatsache berechtigt mich, sich auf den wesentlichen Teil dieses "vielversprechenden" Wettbewerbes zu konzentrieren. Die höchste  Meisterkategorie und die zugehörigen, relevanten Kompositionen stellen den für dieses ganze Vorhaben den wesentlichen, rechtfertigenden Teil dar. Dort liegt "das saftige Fleisch", alles andere kann man als "Beilagen" ansehen. Zu dem Zweck habe ich zwei einfache Übersichtstabellen der Häufigkeitsverteilung von Komponisten, Arrangeuren und Verlagen der Meisterkategorie angelegt. Keine Angst, es handelt sich um keine Integralrechnung, es ist bloß eine triviale Milchmädchenübersicht. Ehe ich auf die Interpretation dieser Tabellen eingehe,  muss ich die Jury vorstellen, deren Zusammensetzung für meine weiteren Überlegungen nicht  "unerheblich" ist.

Amtierende Jury:

• Freek Mestrini, NL, Leitung
• Franz Watz, D
• Antonín Koníček, CZ
• Klaus Rappl, A

Die Pflicht- und Selbstwahlstücke der Höchststufe A  bestehen insgesamt aus 32 Werken, die von einem der 12 Verlage bezogen werden müssen (dies ist eine Grundvoraussetzungen für eine Teilnahme).

Dabei ergibt sich die folgende Häufigkeitsverteilung von Komponisten und/oder Arrangeuren aus dem Lager der MoschStil-Nahen (Tab.1):

Komponist und/oder Arrangeur	Anzahl der Werke	Bemerkungen
F. Watz	16	MoschStil-Verfechter Jury-Mitglied
F. Bummerl	2	MoschStil-Verfechter
G. Weinkopf	1	MoschStil-Verfechter
Zwischensumme	19 von 32	MoschStil-Verfechter
Rest	13	--

Verlag	beteiligte Stückzahl	Bemerkungen
De Haske	7	Zusammenarbeit mit Mestrini, Jury-Mitglied MoschStil-Verfechter
Wertach	4	Zusammenarbeit mit Watz, Jury-Mitglied MoschStil-Verfechter
Ewoton	4	Zusammenarbeit mit Bummerl MoschStil-Verfechter
Zwischensumme	15 von 32	MoschStil-Verfechter
Klarus	6	--
Rundel	3	--
Kliment	2	--
Restliche Verlage	6	--

Dem fachkundigen Publikum, vor allem in Deutschland, muss man die naturgemäße Verbundenheit der Herrn Bummerl, Mestrini, Weinkopf, Watz zu Herrn Mosch sowie zu seinem  InterpretationsStil nicht besonders erläutern. Ich habe diesen Sachverhalt in den Tabellen deshalb als  MoschStil-Verfechter bezeichnet.  Die Tabellenzahlen lassen klar ein signifikantes Übergewicht der Interpretationsweise der böhmischen Blasmusik zu Gunsten der Mosch-Proponenten erkennen. Dies betrifft alle drei Bereiche:  Literaturauswahl, Jury-Besetzung wie auch die Verlagsbeteiligung. Die Meisterschaft ist daher schwer "deutsch-lastig", um es vorsichtig zum Ausdruck zu bringen. Diese Tatsache berechtigt mich, die Rechtfertigung "Europäische Meisterschaft" völlig in Frage zu stellen. Hinsichtlich der in Europa anzutreffenden InterpretationsStile (s.a. unten)  kann bei dieser Meisterschaft, was den fairen Proporz anbelangt, überhaupt keine Rede sein. Das sollten vor allem jene Blaskapellen wissen, die vor allem am mährischen InterpretationsStil ein besonderes Gefallen finden.

Der Begriff "böhmische Blasmusik" ist bei den meisten europäischen Blasmusikfans mit Komponistennamen verknüpft wie
Bláha, Borovička, Fučík, Gurský, Hudec, Hrdlička, Konečný, Kotásek, Kubeš, Dynastie der Maňas, Poncar, Prajka, Procházka, Slabák, Smišovský, Vacek, Valdauf, Žváček und vielen, vielen anderen, überaus bedeutenden Komponisten und Arrangeuren. Die Blasmusik dieser Komponisten - in entsprechenden Arrangements!! - erfreuen sich einer besonderen Popularität in weiten Teilen Europas, deshalb verdienen sie angemessene Beachtung. Eine Meisterschaft muss gänzlich ihre Glaubwürdigkeit einbüßen, wenn Hauptvertreter der böhmischen Blasmusik  irgendwo unter den "Beilagen" gesucht werden müssen. Das Ansehen einer Meisterschaft muss gewaltig darunter leiden und wird vom Fachpublikum völlig ignoriert, wenn Epigonen und Nachahmer die Top-Klasse frequentieren und sich anschicken, den Ton anzugeben.

Anwandlungen, die böhmische Blasmusik mit der deutschen Interpretation gleichsetzten zu wollen ist ein blanker Unfug. Man möge nicht vergessen, dass sowohl Ernst Mosch als auch  sein im vorigen Sommer verstorbener kongenialer Partner Franz Bummerl  bei der böhmischen Blasmusik massive Anleihen nahmen. Es steht außer Zweifel, dass der überwiegende Teil von Ideen, die von diesem Zweigespann in Bares umgesetzt wurde,  von böhmischen Komponisten stammt.  Man soll  ja nicht übersehen, dass es sich hier, nach wie vor um das "böhmische Familiensilber" handelt.

Ergänzend sollen noch einige Überlegungen zum Sound-Charakter und  InterpretationsStil in der böhmischen Blasmusik angehängt werden. Wie wir wissen, besteht zwischen dem InterpretationsStil und dem Sound-Charakter eine komplementäre Beziehung. Es gibt genauso wenig eine Form ohne Inhalt wie Inhalt ohne Form. Folgende Faktoren sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Diese beeinflussen sowohl den InterpretationsStil wie auch den Sound-Charakter:

• Anzahl der Spieler (3er, 5er-, 7er--Partie, kleine, große Blaskapelle, kleines, großes Blasorchester)
• die Art, Bauart und Qualität der verwendeten Musikinstrumente
• mit / ohne Gesang, Anzahl der Sänger
• gewählte Kompositionen
• gewählte Arrangements!!!
• Frasierung
• Einfluss der regionalen Tradition (sofern vorhanden)
• Fertigkeit, Charakter, Mentalität der Spieler
• Mentalität, Erwartungen des Publikums
• Einfluss durch auswertige Entwicklungsströmungen
• (unvollständig ...)

Die gegenwärtige Praxis der böhmischen Blasmusik ließe sich der Einfachheit halber in eine der 4  (sehr groben) Kategorien einteilen (Hier gehe ich von einer "Vogel-Perspektive" aus. Freilich kann man sich, insbesondere auf der regionalen Ebene, genauere Klassifikation vorstellen):

urböhmische Stil-Form (Babouci)

• böhmische Stil-Form (Kubeš)
• mährische Stil-Form  (Slabák)
• deutsche Stil-Form (Mosch)

Hier noch einige Gedanken zu  "Bewertungsbestrebungen" in der Musik, nach dem Motto  "dieser Darbietung ordnen wir die Zahl 425,3 zu, jener hingegen die Zahl 582,0". Ich vermute, diese Tendenz hängt mit dem Aufkommen des industrialisierten Zeitalters zusammen.  Lassen sich die in der Musik, der Malerei etc. manifestierten Gefühle, Ansichten, Überzeugungen, Sitten, Bräuche, Tradition, Geschmack, u.v.a.m., in einer eindimensionalen Zahl ausdrücken? (USA ausgenommen, dort lässt sich scheinbar mit einem einzigen Zeichen de-facto alles messen). Von diesen grundsätzlichen, viel wichtigeren Überlegungen nun einmal abgesehen, versuche ich der polemischen Fragestellung nachzugehen:  Welcher der aufgestellten Stil-Formen sollte beim Beurteilen in der böhmischen Blasmusik als "Referenz"  herangezogen werden?

Man könnte beispielsweise von einem "Durchschnitt",  irgendeinem analytisch konstruierten "Mix" ausgehen  Ja, wie müsste denn eine derartige  Messlatte "Esperanto musica bohemia" eigentlich aussehen? Oder sollte man die mährische Stil-Form als den geeigneten Bezugspunkt nehmen? Von Mähren sind in den vergangenen Jahren viele Impulse ausgegangen,  viele Teile Europas wurden und werden weiterhin "evangelisiert" (Kumpan und anderen).  Wäre das der Weg? Und wie wäre es, die deutsche Stil-Form als europaweites Bezugsmaß heranzuziehen?  Da hätte man wieder ein massives Akzeptanzproblem  in böhmischen Landen. Man sieht, mit welchen Problemräumen menschlicher Natur wir hier zu tun haben.

Die wichtigste Frage habe ich mir jedoch für diesen Augenblick aufgehoben: Die Musik macht an sich glücklich. Wem ist aber mit einer Bewertung eigentlich geholfen?  Sicherlich nicht einer menschlichen Seele mit ihren individuellen, feinverwobenen komplexen Vorstellungen  von Liebe, Lebenssinn, Lebensglück, Zufriedenheit, Wohlempfinden, Geschmack.

Umfrage zu diesem Artikel

Der Sachverhalt in diesem Artikel wurde aus meiner Sicht ... {acepolls 3}

Ergebnis (deutsche Version) výsledky (česká verze)

Auf einen durchaus interessanten Aspekt der Meisterschaften soll noch eingegangen werden. Meisterschaften können aufgrund der derzeitigen Abhaltungspraxis nie ein repräsentatives Ergebnis anbieten. Das liegt einfach daran, dass es in diesem Segment überhaupt keine Vorselektion der beteiligten Blaskapellen gibt, sei es auf lokaler, regionaler, nationaler oder übernationaler Ebene. Die sogenannten "Meisterschafts-Ergebnisse" sind relative Zufallszahlen, kaum aussagekräftig. Wenn wir von Meisterschaften reden, so fúhren wir doch die "Vorlage" aus den Sportbereich unter die Lupe. Dort  ist eine Vorselektion selbstverich. Wenn es einem Wettkämpfer nach einer langen Vorselektionskette  schließlich gelingt, in die enge Auswahl selbstverständlich zu gelangen und dann die 5m hohe Latte zu überspringen, wird er zum Meister gekürt. Im Bereich der Blasmusik haben wir manchmal mit "Meisterschaften" zu tun, bei denen sich gelegentlich auch nur 3 zufällige Blaskapellen beteiligen ... und es gibt "Ergebnisse". Ist das nicht eine ulkige Sache? Man möge nur an olympische Spiele denken, die nach diesem Schema laufen würden. Na ja, vielleicht wäre es ja auch ganz fein. Jedes Dorf könnte dadurch einen eigenen "Weltmeister" haben und alle wären glücklich.

Nichtsdestotrotz, es lebe also die "Österreichische Meisterschaft" in Österreich, die "Deutsche Meisterschaft" in Deutschland,  die "Schweizerische Meisterschaft" in der Schweiz, die "Holländische Meisterschaft" in Holland  ... und die böhmische hätte ich beinahe übersehen. Daher, es lebe natürlich auch die "Slowakisch-mährisch-böhmische Meisterschaft" in der Interpretation ihrer eigenen Musik in Böhmen, Mähren und der Slowakei. Dem Glücksempfinden wird dann, wie ich glaube, eigentlich  nichts mehr im Wege stehen.

Die Ankunft des Glücks / Příchod štěstí amtlich noch nicht bewertet / úředně ještě nehodnoceno (Bewertung aber wahrscheinlich um den Wert 380,4 / hodnocení pravděpodobně kolem hodnoty 380,4)